Vorträge

„Wasan – Kulturgeschichte der japanischen Mathematik vom 17. bis 19. Jahrhundert“

ein Vortrag von Dr. Chantal Weber

im Haus der Geschichte, Willy-Brandt-Allee 14, Bonn

 

In der Edo-Zeit (1603–1868) erlebten viele Künste wie der Tee-Weg oder das Haiku ihre Blütezeit. Neben professionellen Meistern gab es immer auch viele Laienanhänger, die eine sehr hohe Kunstfertigkeit erlangten. Auch die Kunst der Mathematik war davon nicht ausgenommen. In der Edo-Zeit erreichte die japanische Mathematik, wasan, dank Personen wie Seki Takakazu (?–1708) oder Takebe Katahiro (1664–1739) ihr höchstes Niveau und durchdrang gleichzeitig unterschiedliche Bereiche des Alltagslebens der Gesellschaft.

Dieser Vortrag gibt zunächst einen historischen Überblick von den Anfängen der japanischen Mathematik vor dem 17. Jahrhundert bis zu ihrem Verschwinden im Laufe des 19. Jahrhunderts. Dabei sind schriftliche Überlieferungen aus China ebenso von Wichtigkeit wie die Einführung des Abakus (soroban) und der Kontakt mit den europäischen Wissenschaften. Die vier Grundrechenarten konnten problemlos mit den Rechenhölzchen (jap. sangi) ausgeführt werden, die bereits weit vor dem 17. Jahrhundert aus China eingeführt wurden. Denn die chinesischen Zeichen der Zahlen, wie sie auch in Japan verwendet werden, eignen sich kaum für Rechenoperationen.
(Foto: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ono_City_Tradition_Industrial_Hall05s4272.jpg)

Erst mit der Edo-Zeit jedoch entstand eine Abstraktion der Mathematik, die über die praktische Anwendung hinausging. Zahlreiche Rechenproblemen wurden in Publikationen veröffentlicht und so einem breiteren Publikum zugänglich gemacht. Die japanischen Mathematiker standen ihren europäischen Zeitgenossen wie Isaac Newton (1642–1736) oder Gottfried Leibnitz (1646–1716) in keiner Weise nach und befassten sich unter anderem mit der Berechnung von Flächen oder von π.

In einem abschließenden Teil kommt die Mathematik als Bestandteil des kulturellen Lebens in der Edo-Zeit zur Sprache. So wurden Votivtafeln mit geometrischen Problemstellungen (sangaku) in Schreinen und Tempeln aufgehängt. Sie dienten nicht nur als Opfergabe, sondern auch als intellektuelle Herausforderung für andere Pilger. Weniger offensichtlich ist der Zusammenhang zwischen Räucherkunst und Mathematik, dennoch findet man in vielen zeitgenössischen Mathematikbüchern Darstellungen des Genjikô, einem Spiel aus dem Duft-Weg (kôdô).

Im 19. Jahrhundert, nach der Modernisierung Japans nach westlichem Vorbild, verschwand das wasan aus den Schulen und dem Alltagsleben. Die Gründe dafür liegen sicherlich bei den Bestrebungen, die westlichen Wissenschaften auf allen Ebenen der Ausbildung und Gesellschaft zu etablieren. Der japanische Abakus jedoch erfährt bis heute eine große Beliebtheit und wird als besonderes geistiges Training angesehen.
 



Dr. Chantal Weber
Japanologin, Universität zu Köln, 1997–2003 Studium der Japanologie, Klassischen Archäologie und Kunstgeschichte an der Universität zu Köln. 2003–2005 Mitarbeiterin im Rechenzentrum der Universität Freiburg (Bereich Neue Medien). 2005–2006 Forschungsstipendium (Japan Foundation) an der Daitō Bunka Daigaku, Tōkyō. 2006–2008 Asienbeauftragte und Beauftragte für Konzepte der Betreuung internationaler Studierender, International Office der Universität Freiburg. Seit 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Japanologie der Universität zu Köln. 2011 Promotion an der Philosophischen Fakultät, Universität zu Köln. Thema: Kulturhistorische Netzwerkanalyse am Beispiel des Tee-Meisters Kanamori Sōwa. 2012–14 Japan-Stipendium (JSPS) an der Kansai University, Ōsaka. Seit 2015 Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft der JSPS-Stipendiaten e.V., Schriftführung